Schrumpfender Hirnmuskel und Selbstoptimierungswahn


Gerne sitze ich oben. Auf dem Küchenschrank. Überblick eben. Den ich brauche – wie es sich für einen Hauptstadtkater gehört. Denke ich so. Und sehe Coco. Wie sie sich am Kratzbaum zu mir emporhangelt – krass, ihr Stil: sie zieht sich nur mit ihren Vorderpfoten hoch, der Körper hängt runter. Welch Kraft! Denke ich so. Ehrlich bewundernd.
Würde dann allerdings gerne stöhnen, wenn ich es könnte – weil sie in meine Richtung unterwegs ist. Balancierend auf der offenen Schranktür. Die sich durch ihre Gewichtsverlagerung beim Tippeln immer weiter öffnet.
Und Coco-Baby? Wie in Zeitlupe gleitet sie in den Spagat. Und ich denke so: Wie weit kann der noch gehen – mittlerweile hängen alle vier Pfoten über ihren Kopf. Es kracht. Coco landet auf dem Boden. Der Tatsachen. Guckt erschrocken, aber frech. Neben ihr der Korb. Den sie mitgerissen hat.

Und ich denke so: Da muss sie noch viel lernen. Um ihr Selbst zu optimieren. Wie es beim Menschen ja gerade so in Mode ist. Die Selbstoptimierung. Auf Kosten des Hirns. Denke ich so. Mit Blick auf die Krisen. Der Welt.
Meine Leute zum Beispiel: Haben sich jetzt eine riesige Rudermaschine in mein ohnehin voll gerümpeltes Revier gepackt. Und Felix so, offensichtlich stolz auf sein Statussymbol, schwärmt wieder mal ungefragt: „Wow, eine Concept 2, mit der trainieren auch Olympiasieger.“ Um dann zu bemerken, dass das Gerät auch benutzt werden muss: „Klar, ist anstrengend, aber Rudern ist der gesündeste Sport, beansprucht 90 Prozent aller Muskeln.“ Und ich denke so: Leider nicht seinen Hirnmuskel.
Denn – was macht er? Rudert nicht selbst, sondern legt eine Spielzeugmaus auf den Stuhl des Ruderteils. Die ich mir schnell schnappe. Dann das Gleiche für Coco: Die drauf springt und mit dem Stuhl nach hinten rast. Findet Felix lustig. Ist aber der zweite Schockmoment des Tages für Coco.
Und selbst ich. Entwickle. Mitleid. Für die Maus. Wie Felix zu Coco sagt. Obwohl Coco eine Katze ist. Also weder Maus – noch Schnecke. Wie Coco auch schon tituliert wurde. Sondern: KATZE. Coco. Ganz einfach. Really.



Endlich tauchen dann auch meine Bruna und Laura wieder auf. Sie waren in Halle bei einem Chorkonzert mit rund 30 Menschen – alle zwischen 70 und 94 Jahren. Jung. Der Name des Chors: Heaven Can Wait. Und selbst meine Bruna ist hernach davon so erfüllt, dass sie unbedingt wieder zu einem Konzert von dem Chor will.
Unbändige Lebensfreude. Spaß. Den offensichtlich auch alte Menschen haben können. In aller Öffentlichkeit. Und Felix reichlich tumb: „Durch Selbstoptimierung.“ Und ich würde gerne, wenn er mich hören könnte, hinzufügen: „Wahn.“
Meine Leute sind dann noch bei Iby, dem Kater von Lauras Freundin Josephine, der sich gerade mal wieder allein durchs Leben schlagen muss. Während es sich seine Leute gut gehen lassen – wahrscheinlich ihr Selbst optimieren…

Nun, Felix ist irritiert, weil Iby erst mal gar nicht mit ihm spielen will. Erst ankommt, als er Leckerli serviert. Und ich denke so: „Leute, was glaubt ihr, wer ihr seid? Als ob ein Kater gleich Zutrauen zu euch hätte – ihr verblendeten Selbst-Optimierer.
Aber klar, ich weiß. Ich bin privilegiert, so was zu denken. Hier oben, ganz oben auf dem Schrank. Mit dem Überblick. Des Hauptstadtkaters.“
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