Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Meine Gegenwart ist Coco. Coco überall. Auch auf meiner Bruna. Und so ersehne ich mir die gute alte Vergangenheit. Als mein Mitkater Moro noch da war. Und mich biss. Oder nach seinem Tod die Ruhe und Einsamkeit. Die mich so anödete. Und ich denke so: Alta, bin ich anspruchsvoll. Merke zeitgleich Cocos Pfote durch meinen Schnurrbart peitschen. Nerv. Aber Emotion. Und Leben. Pur. Real.
Meine Leute sind zu den Großeltern meiner Bruna nach Hamburg gereist. Deren Vergangenheit ungleich größer ist als die meine. Meint Opa Volker. Die Gegenwart drehe sich immer schneller. Obwohl man eigentlich immer weniger mache. Und ich denke so: Liegt vielleicht daran, dass deren Vergangenheit immer weiter wächst. Und die Gegenwart im Vergleich dazu immer kleiner wird. Anteilig.
Puuh, ich werde offenbar alt. Gestern meine altbackenen Lästereien über ein eigentlich cooles Fest wie Halloween. Heute komplizierte Sätze, die eh niemand versteht. Also mal konkret. Opa Volker und Oma Lotte meinen, früher hatten die Menschen sich stärker gegenseitig umeinander gekümmert. Heute seien die Nachbarn zwar nett, aber der große Zusammenhalt sei weg. Alles so unverbindlich.

Sie erzählen von früher. Kriegszeiten. Hunger. Die Mutter von Opa meiner Bruna musste auf dem Feld Kartoffeln ernten, Kühe melken – obwohl sie das zuvor nie getan hatte. Weil der Vater nicht mehr als Lehrer arbeiten durfte. Fünf Söhne mussten ernährt werden, Opa Volker wurde zu einer Tante in eine nahe Stadt gegeben, die mehr hatte, weil sie in der Werksküche des Rüstungsunternehmens Hanomag arbeitete. Ständig habe es Haferschleim gegeben. Erzählt Opa Volker. Heute habe er Ekel davor.

Diego erzählt von seiner Wanderung vor zwei Monaten durch die Anden auf über 4.500 Metern in Peru. Karge Berglandschaften, unberührte Seen, faszinierende Gipfel, Esel. Katzen. Und zum Frühstück immer Massen an Haferschleim. Fünf Tage.
Opa Volker erzählt, er habe die Bomber gesehen, die das 25 Kilometer entfernte Hildesheim angegriffen hätten. Und den Feuerschein danach, der tagsüber fast bis in den Harz herübergestrahlt habe.
Diego erzählt von dem nächtlichen Aufstieg auf einen Gipfel. Von wo aus er und seine drei Freunde die Sonne aufgehen sahen. Glutrot. Unfassbar schön.

Später sei er dann durch Hildesheim gelaufen – oder dem, was davon übriggeblieben sei. Erzählt Opa Volker. Es habe ausgesehen wie heute der Gazastreifen. Ein Trümmerfeld.
Oder die Ukraine. Sagt Oma Lotte. Wenn sie Bilder von den aktuellen Kriegen sehe, werde sie in ihre Kriegszeiten zurückversetzt. Sehe die sogenannten Christbäume wieder – Leuchtraketen der Alliierten, mit denen sie Ziele markierten für die Bomber. Oma Lotte erzählt von ihrer Mutter, die alleinerziehend drei Kinder großziehen musste – und dafür in einer fremden Stadt fremde Menschen massieren musste.

Und ich denke so: Vergangenheit ist eben doch oft hässlich. Warum sie trotzdem verklärt wird? Nun, ich denke: Weil sie irreal ist. Und die Gegenwart zwar real, aber eben deswegen noch unerträglicher. Ich merke: Ich beginne schon wieder zu faseln.
Spüre Cocos nächsten Schlag. Jage sie. Bis sie aufschreit. Wie immer. Und Trost sucht. Bei meiner Bruna. Aber was ist mit der Zukunft? Will ich nicht wissen. Sagt der gegenwärtige Hauptstadtkater. Der über euch wacht. Und sagt: Chillt, Leute.